History
Als eines späten Septembermorgens die Sonne aufgeht, ziehen Nebelschleier über die kalten Wasser des Ciron. Sie gleiten rasch über die Weinberge und lassen sich dann auf den Hängen nieder. Als die ersten Sonnenstrahlen die Hügel streifen, zerreißt ihre Wärme den Nebel und zwischen den Rebstöcken werden die Umrisse von Weinpflückern sichtbar. Sie gehen gebückt und sammeln die von Schimmel umhüllten Trockenbeeren ein, sehr sorgsam, eine nach der anderen, Beere für Beere. Die erste Lese des 1896er-Jahrgangs auf Château d'Yquem hat begonnen.
Die Ernte des 1896er-Jahrgangs begann im Auftrag von Amade de Lur-Saluces am 21. September, als die Sonne noch für weitere fünf Tage scheinen sollte. Der sorgfältige erste Lesedurchgang ergab ein Dutzend Fässer sehr konzentrierten Weins. Nach zwei regenreichen Tagen wurde mit der zweiten Lese begonnen. Das gute Wetter hielt sich nur einen Tag, aber das Resultat waren fünfzehn großartige Fässer.
Die Pflücker kehrten eineWoche später zum dritten Mal zu den von der Edelfäule Botrytis cinerea befallenen Trauben zurück. Wechselhaftes Wetter kündigte nun eine näherrückende Regenfront an. Die Gewissheit über das, was da im Anzug war, beschleunigte die Geschwindigkeit der Pflücker, und die Ernte steigerte sich auf vierundzwanzig Fässer am Tag.
Der unerbittliche Regen kam drei Tage später und unterbrach die Arbeit für eine Woche. Auch die vierte Lese wurde immer wieder von Regenschauern gestört, aber das Resultat waren zweihundert Fässer in vier Tagen - damals eine außerordentliche Leistung. Allerdings fiel der Alkoholgehalt auf vierzehn Grad. Die fünfte und letzte Ernte ergab dreihundert Fässer in einem extrem schlechten Zustand. Der potenzielle Alkoholgehalt fiel unter zehn Grad - diese Trauben konnten für den Grand Vin nicht genutzt werden. Alles in allem wurden 826 Fässer bei einem Ertrag von zweiundzwanzig Hektoliter pro Hektar unter sehr unterschiedlichen Bedingungen geerntet. Aber nur das erste Viertel konnte den strengen Anforderungen von Château d'Yquem genügen.
Yquems allererste offizielle Ernte hatte dreihundert Jahre zuvor stattgefunden, im Jahr 1593, als Jacques de Sauvage das Weingut von der französischen Krone erwarb. In den Besitz des altehrwürdigen Grafengeschlechts Lur-Saluces gelangte das Château d'Yquem schließlich, als Françoise de Sauvage und Louis Amade Lur-Saluces, ein Patensohn Ludwigs XV., 1785 heirateten. Zugleich unterstellte es sich dem Schutz des französischen Königs. Heute besitzt das Weingut mehr als 100 Hektar, was seiner Größe vor zweihundert Jahren ungefähr entspricht. Château d'Yquem produziert ausschlie ßlich Weißweine und ist in der ganzen Welt vor allem für seine Süßweine berühmt.
Comte Alexandre de Lur-Saluces, der das Weingut zuletzt dreißig Jahre lang führte und seit wenigen Jahren im Ruhestand ist, erklärt denn auch mit verhaltenem Stolz, dass die Philosophie des Weinbaus von Château d'Yquem in Jahrhunderten gewachsen ist. "Das Wichtigste ist, die Natur zu respektieren", betont er, "wie es mein Großvater und dessen Vorgänger vor Hunderten von Jahren schon taten. Ohne das Zutun von Mutter Natur können wir keine großartigenWeine herstellen."
Jede Lese sei auf ihre Weise ein Abenteuer für sich mit immer neuen Überraschungen. Aber auch in Zukunft würden die Yquem-Weine die gleichen sein, die sie schon vor Jahrhunderten waren: "Die Werkzeuge haben sich geändert, aber nicht unsere Art, Wein herzustellen."
Als die Weine aus dem Bordelais im Jahr 1855 durch die Handelskammer in Bordeaux klassifiziert wurden, bekam nur Château d'Yquem eine eigene Klassifizierung: Premier Cru Supérieur Classé. Heute ist es das einzige Weingut in Sauternes, das die Einstufung Premier Grand Cru Classé genießt. Auch wenn es diese Klassifizierung auf seinen Etiketten nutzen könnte, tut es das nicht. So oder so produziert es die renommiertesten Weine der Region und nach Meinung mancher Experten die besten im Bordelais überhaupt.
Seine Lage auf dem höchsten Punkt in Sauternes erzeugt ein einzigartiges Mikroklima, das aber von Jahr zu Jahr sehr schwankt. Daher bedarf es einer äußerst sorgfältigen und präzisen Bewirtschaftung der Rebflächen: "Die Wetterbedingungen in der Wachstumsperiode, insbesondere während der Weinlese, wenn wir darauf warten, dass die Botrytis unsere Trauben befällt, geben unseren Weinen ihre einzigartige Persönlichkeit - dieser natürliche Vorgang hängt ausschließlich vom Wetter ab", erklärt Alexandre de Lur-Saluces die so subtile wie prekäre Situation: "Wir entscheiden nur, wann und wie dieWeinlese stattfindet."
In schwierigen Jahren kann die Weinlese acht bis zehn Wochen dauern. Die Beeren werden naturgemäß immer noch von Hand ausgelesen, und zwar erst dann, wenn sie gänzlich mit Botrytis bedeckt sind. Oft sind bis zu zehn Lesedurchgänge während einer Ernte nötig. Beeren, die die Höchstreife nicht erreichen, werden amWeinstock zurückgelassen und nicht gepflückt. Sogar nach der Vinifikation und der Reifung im Fass kann der Wein abgelehnt werden, wenn er sich nicht den Château-Ansprüchen entsprechend entwickelt hat. Dieser Schlag traf zum Beispiel die Jahrgänge 1978 und 1979. Mehr als die Hälfte wurde verworfen. Und in ganz schlechten Jahren stellt Château d'Yquem überhaupt keinen Wein her. So geschah es in den Jahren 1964, 1972, 1974 und 1992.
"Diemeisten Leute denken, es bedarf keines Aufwands, ein weltberühmtes Weingut wie Château d'Yquem zu betreuen", sagt Alexandre de Lur-Saluces, "aber wie andere Unternehmen auch, beeinflussen uns Bewegungen auf dem Weltmarkt, vom Wetter jetzt ganz zu schweigen." Das Jahr 1974 sei eines der schwierigsten in seiner Zeit gewesen. In jenem deprimierenden Jahr, erinnert er sich, hätte das Weingut nicht eine einzige Flasche Yquem herstellen können: "Und von den anderen Jahrgängen konnten wir gerade einmal vier Kisten verkaufen."